Stellen wir uns vor, jemand hilft einem anderen beim Suizid. Das ist in Deutschland straffrei, und dem zeitgenössischen Denken zufolge ist es nicht einmal mehr besonders anstößig. Das entscheidende Argument für die Straffreiheit lautet: Insofern man den Selbstmord nicht bestrafen kann, könne man auch die Tatbeteiligung nicht bestrafen. Eine Mittäterschaft könne nur dann strafbar sein, wenn auch die Haupttat strafbar ist. Bei Mord, Diebstahl und Entführung leuchtet dieser Zusammenhang ein.
In Wir sollen sterben wollen habe ich geschrieben, dass das Prinzip der Akzessorietät bei der Sterbehilfe (= Suizidhilfe) deshalb nicht greife, weil das verletzte Rechtsgut (das Leben einer Person) nicht das Gut eines Dritten ist, sondern das Gut einer der beiden an der Tat beteiligten Personen. Das trifft aber das Problem noch nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit. Sehr viel klarer sagt Robert Spaemann, wo das Problem liegt:
»Man folgert aus der gesetzlichen Erlaubtheit des Suizid, dass auch die Beihilfe zu einer erlaubten Handlung erlaubt sein müsse. Nun ist aber der Suizid und der Suizidversuch nicht ›erlaubt‹, sondern nur nicht verboten, weil er nämlich überhaupt nicht in die Rechtssphäre gehört. Der Selbstmörder tritt einfach aus aus der Gemeinschaft der Menschen. Zur Beihilfe aber gehören zwei Personen. Sie ist ein zwischenmenschliches Geschehen, fällt deshalb in die Rechtssphäre und muss, solange jemand dieser Sphäre angehört, verboten und strafbar sein.«
Man kann sich leicht ausmalen, was passiert, wenn diese Unterscheidung zwischen der Anwesenheit in der Rechtssphäre und dem Austritt aus ihr aufgegeben wird. Mit der Nivellierung dieses Unterschieds wird der Begriff des Rechtes überhaupt aufgegeben. Der offene und erklärte Verzicht auf diese Unterscheidung ist das Symptom einer Rechtskrise, das man nicht ernst genug nehmen kann. Schließlich geht es um Leben und Tod.