Schlagwort-Archiv: Homosexualität

Kleinfamilie

Am Gesundbrunnen steigt eine Kleinfamilie in die S-Bahn Richtung Friedrichstraße. Die Eltern sind etwa Mitte Dreißig, der Sohn mag vier oder fünf Jahre alt sein. Er geht an der Hand seines Vaters. Es ist kein Zweifel, dass sie Vater und Sohn sind. Zunächst stehen sie ein wenig unschlüssig im Gang neben der freien Sitzbank, während sich die Frau sofort neben mir niederlässt. Nachdem ich meine Beine eingezogen habe, fordert der Vater seinen Sohn auf, durchzurutschen. Nun sitzt der Junge mir gegenüber am Fenster. Der Vater sitzt neben ihm und gegenüber der mutmaßlichen Mutter, die, wie gesagt, neben mir sitzt. Der Vater fragt den Jungen: »Sitzt Du gut? Ist alles in Ordnung? Ist Dir auch nicht kalt?« Er spricht, als wäre er die Mutter, während die mutmaßliche Mutter schweigt. Der Junge kaut an einem Vollkornbrötchen, das er mit beiden Händen festhält. Er schiebt seine Hüfte vor, bis er fast liegt, und schüttelt stumm den Kopf. Nach den Fragen seines Vaters sagen die Eltern nichts mehr. Auch miteinander sprechen sie nicht. Der Junge blickt mich an. Die Frau hält ihren Kopf leicht nach rechts gedreht, als würde sie an dem Mann vorbei den Gang hinunterschauen. Den Jungen kann sie in dieser Position vermutlich nicht einmal aus dem Augenwinkel sehen. Der Junge kaut, bis er sein Brötchen aufgegessen hat. Ab und zu sieht er mich wieder an, aber je öfter er das tut, desto deutlicher geht sein Blick ins Leere. Ich denke, vielleicht ist die Frau, die neben mir sitzt, gar nicht seine Mutter. In jedem Fall ist sie weit weg, denke ich, und der Vater neigt dazu, die Mutter zu ersetzen. Falls ihm das gelingt, hat der Junge bald nicht nur eine abwesende Mutter, sondern auch einen abwesenden Vater. Dann wird er nicht nur die Anwesenheit seiner Mutter vermissen, sondern auch die Anwesenheit seines Vaters, der damit beschäftigt ist, seine Mutter zu vertreten. Dann wird der Junge einen schweren Weg vor sich haben.

Über die Verwechslung von Innen und Außen

Ein beliebtes Klischee, das über die Emanzipation von Homosexuellen in Umlauf ist, lautet, sie habe die Erpressbarkeit abgeschafft. Welch ein Irrtum! Nichts ist wirklich neu, und nichts ist wirklich verschwunden. Die Dinge wechseln nur ihren Platz. Fast jeder ist entweder verwundbar oder erpressbar. Je höher die soziale Stellung, desto geringer die Verwundbarkeit. Aber desto höher die Erpressbarkeit. Erpressbar war früher, wer anders lebte, als er sprach. Erpressbar ist heute, wer anders spricht, als er lebt. Homosexualität ist keine private Neigung mehr. Sie konstituiere, so heißt es, nichts weniger als die »Identität« einer Person. Gemeint ist offenbar eine Identität von Innen und Außen. Früher war erpressbar, wer sein homosexuelles Privatleben hinter einer bürgerlichen »Fassade« verbarg. Wer heute dasselbe tut, riskiert immer noch viel. Der soziale Druck ist nicht verschwunden, er ist nur ein anderer geworden. Er zwingt dazu, die äußere Lebensführung bis hin zu Meinungen, Ansichten und Überzeugungen etwa vorhandenen homosexuellen Neigungen anzupassen.

Der Satz, »das Private ist politisch«, bedeutet zuallererst, dass das Private nicht mehr privat sein darf. Dass es keinen Grund mehr geben soll, öffentliche Rolle und private Neigungen voneinander zu trennen, oder aus Interesse am Gemeinwohl von der privaten Befindlichkeit abzusehen, oder die traditionelle Familie für unübertrefflich wertvoll zu erklären, während sie einem persönlich verschlossen bleibt. Wenn einer das tut, kann seine Neigung ihn immer noch zu Fall bringen. Eine um Jahrzehnte zurückliegende falsche Geste genügt. Würde er dagegen schweigen, ließe man ihn in Ruhe. Aber er spricht. Das ist die Stunde seiner Erpresser. Sie denunzieren sein Votum, etwa für die Weitergabe des Lebens, als Verrat an den Homosexuellen und vor allem natürlich als Verrat an seiner eigenen Homosexualität. Als ob sie allen gehören würde. Und als ob ein allgemeines Votum für die Weitergabe des Lebens nicht viel wichtiger wäre als die private Neigung.

Betrachten wir die Sache formal: Wer sich identitätspolitisch nicht in die Zange nehmen lässt, wer sich nicht zwingen lässt, mit sich identisch zu sein, wer innen und außen lebt oder oben und unten, wer die Spannung hält, der ist genauso gefährdet wie früher. Ganz gleich, wie die Homosexualität öffentlich bewertet wird – die Erpresser haben immer noch zu tun. Jedenfalls dann, wenn die Pflicht zur Ehrlichkeit (»outing«) höher bewertet wird als die Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Im Rahmen der Wahrhaftigkeit wäre die Person mehr als ihre sexuelle Neigung. Sie dürfte den höheren Wert der allgemeinen Ordnung des Lebens auch dann anerkennen, wenn die Verfasstheit ihres eigenen Lebens dieser Ordnung nicht entsprechend würde. Anders gesagt: Eine Frau, die abgetrieben hat, müsste noch lange nicht für ein generelles Abtreibungsrecht sein. Genau das wird aber von ihr verlangt. Mehr noch, es wird als selbstverständlich auch um den Preis vorausgesetzt, dass sie sich und anderen Frauen den Schmerz ausredet.

Für die Ordnung des Lebens kann nur derjenige eintreten, der mit bestimmten eigenen Abweichungen diskret umgeht. Wenn das Heuchelei ist, dann brauchen wir eben manchmal die Heuchelei, um die Kluft zwischen individueller Lebensführung und (vernünftiger) sozialer Anforderung zu überbrücken. Wo die soziale Anforderung, Homosexualität wenigstens zu verbergen, wichtiger ist, kann die Heuchelei ein notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung der Hierarchie des Lebens sein. Das Halten der Spannung zwischen Innen und Außen muss dann stillschweigend toleriert werden wie das Schließen der Tür und das Zuziehen der Gardine. Heimlichkeit kann man schlecht öffentlich rechtfertigen. Der letzte Grund für die sinnvolle Spannung zwischen Innen und Außen liegt aber darin, dass – im Falle von Homosexualität – die manifeste Andersartigkeit auch durch noch so wohlwollende Bewertungen und noch so weitgehende Gleichstellungsmaßnahmen nicht aus der Welt geschafft werden kann.

Über die Verwechslung von Fremdem und Eigenem

130302 shutterstock_129669434 kleinEin Adoptionsrecht »für« gleichgeschlechtliche Paare verspricht, ein scheinbar unvermeidliches Defizit ausgleichen zu können. Aber woher kommt der Ausgleich? Von verschiedengeschlechtlichen Eltern, die selbstgezeugte Kinder haben und sie zur Adoption freigeben. 2011 wurden in Deutschland nur 4.060 Adoptivkinder vermittelt. Auf ein Adoptivkind kommen zehn Bewerber. Wir haben keinen Mangel an »Eltern«, sondern an Kindern. Eine Homosexuellenquote im Adoptionsrecht (darum geht es doch wohl – um Zuteilung unabhängig von Eignung) würde pro Jahr schätzungsweise 200 gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern versorgen. Tendenz fallend, weil die Zahl der Adoptionen seit 20 Jahren fällt. Und dafür der ganze Aufwand?

Schauen wir nach Wien. Dort kümmert sich die Grundrechteagentur der EU nicht nur um Homosexuellen-, sondern auch um Kinderrechte. Je mehr Schutz von Kinderrechten, desto mehr Kindesentzug im Falle »ungeeigneter« Eltern. So könnte die Adoptionsrate steigen, während die Geburtenrate weiter fällt. Der Staat verspricht alles Mögliche, was ihm nicht gehört, warum nicht auch Kinder? Die Umverteilung zu Lasten Dritter funktioniert im Namen der Gerechtigkeit wie ein Naturgesetz. Neu wäre nur seine Anwendung auf knappes Humankapital. Jeglicher Widerstand kann als »Homophobie« kampflos besiegt werden.

Wovon sprach die CSU dieser Tage, als sie von der Weitergabe des Lebens hätte sprechen müssen? Vom »Leben mit Kindern«. Da haben wir ihn, wo wir ihn am wenigsten vermuteten, den vorauseilenden Abschied vom genealogischen Prinzip.

Das FKK-Paradox

Was ist los, wenn bereits »ein unauffälliger Blick ins Dekolleté« als sexistisch gilt? (Um allen Angriffen vorzubeugen: Von diesem und nur von diesem Vorwurf handelt dieser Beitrag.) Also, was ist los, wenn bereits »ein unauffälliger Blick ins Dekolleté« als sexistisch gilt? Antwort: Dann geht es  nicht mehr um Zudringlichkeit, sondern bereits um bloßes Begehren. In demselben Maße, in dem der öffentliche Raum mit Bildern von nackter Haut und aufreizenden Zeugnissen sexueller Perversionen nur so zugekleistert wird, soll der Mann prüde werden. Wie schrieb Lena Bopp in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von gestern? Diese Selbstdisziplinierung sei »eine Aufgabe, die sich jedem jeden Tag stellt«.

Die befreite Frau erregt den Mann und verbietet ihm zugleich die Erregung. Der FKK-Strand ist jetzt überall. Nicht der öffentliche Reiz gilt als pervers, sondern die Reizbarkeit. Der Mann soll die Hemmungen übernehmen, die die lustbetonte Frau fallengelassen hat. Er soll sich jene Schamhaftigkeit zulegen, welche die Frau auf dem Weg ihrer Emanzipation nur behindern würde. Ein klarer Deal, aber ein schlechtes Geschäft. Auch Frau Himmelreich hat FKK gespielt, denn sie hat zu später Stunde den fast vierzig Jahre älteren Herrn Brüderle mit der Frage beleidigt, wie er es finde, in fortgeschrittenem Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen. Und dann hat sie sich darüber empört, dass er ihr seine Jugendlichkeit beweisen wollte. Aber es wird noch verrückter.

Wäre Herr Brüderle schwul und hätte er auf wer weiß wie komplizierten Wegen oder gar durch künstliche Befruchtung ein Kind gezeugt, stünde er nicht als Frauenverächter da. Es ist lange nicht mehr vorgekommen, dass der Abscheu vor dem weiblichen Körper als frauenfeindlich gebrandmarkt worden wäre. Ein solcher Ekel ist für den Mann von heute weniger gefährlich als – eine Frau zu begehren. Der Ekel darf sich austoben, das Begehren aber soll ein Ende haben. Der Ekel wird gefördert, das Begehren aber wird bestraft. Wem das nützt? Der Reproduktionsmedizin. Anders gesagt: der Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, der Gattungsreproduktion ohne die Fallstricke der Liebe. Die Bestrafung des Begehrens ist vielleicht nur der Anfang einer Eiszeit.