Frau. Bohne. Welt. – Werkstattbericht Nr. 1

FrauOhneWelt1_Vorschau_Blog ALTIn der Reihe »Werkstattbericht« werde ich künftig in loser Folge von der verlegerischen Arbeit berichten, soweit sie über meinen Schreibtisch hinaus von Interesse sein könnte. Ich beginne heute mit einem Besuch in unserer Herstellungsabteilung.

Der Berliner Grafikdesigner und Kalligraf Frank Ortmann hat sich freundlicherweise bereit erklärt, die Cover von Bernhard Lassahns »Trilogie zur Rettung der Liebe« zu gestalten, deren erster Band demnächst in der Edition Sonderwege erscheint. Ortmann hat unter anderem für den Rowohlt Verlag den schönen Umschlag von Martin Walsers neuem Roman Das dreizehnte Kapitel entworfen. Hier besteht seine Aufgabe darin, den Flugschriftcharakter von Lassahns Büchern zum Ausdruck zu bringen. Das Cover soll leichtfüßig daherkommen, es soll freundlich, lebhaft und einladend wirken, denn schließlich handelt es sich um ein Buch nicht gegen, sondern für Frauen. Es soll ihnen und den Männern den gemeinsamen Lebensmut wiedergeben, den ihnen Feminismus und Gender-Theorie irreführenderweise auszutreiben versuchen. Und weil da ein einzelnes Buch gar nicht reicht, schreibt Lassahn gleich drei: eines über den »Krieg gegen den Mann« (1. Band), eines über den »Krieg gegen das Kind« (2. Band) und eines über den »Krieg gegen die Zukunft« (3. Band). Lassahn argumentiert scharfsinng. Humorvoll erzählt er von den unzähligen Denk- und Sprachfehlern feministisch-narzisstischer Weltflucht.

Die Kurzessays von Bernhard Lassahn, den manch einer vielleicht von Henrik Broders Blog »AchGut« kennt, kommen so freundlich und heiter daher, dass einen die Höhepunkte immer wieder kalt erwischen. Da gibt es Frauen, die andere Frauen davor warnen, sich in Männer auch nur zu verlieben, weil dies die Einstiegsdroge in die Unterdrückung durch den Mann sei! Lassahns Fazit: Je mehr die Frauen den Männern verlorengehen, desto mehr geht den Frauen die Welt verloren. Der Feminismus entfernt die Frauen von der Welt, er ist eine gnostische Bewegung. Auf den Titel von Günter Anders’ Schriftensammlung Mensch ohne Welt sind wir aber erst gestoßen, als wir recherchierten, ob es »Frau ohne Welt« schon gibt. Ich schwör’s!

Nun zu Ortmanns Entwurf. Der Gesamteindruck: ein Filmplakat aus den fünfziger Jahren (retro!). Die Pinselkalligrafie ist sehr gelungen. Sie ist kräftig und schwungvoll. Sie ist vorzüglich geeignet, die gewünschte Aufmerksamkeit zu wecken. Allein das mittlere Wörtchen »ohne« will sich noch nicht so recht in den Schreibfluss von »Frau« und »Welt« fügen. Das »h« wirkt ein wenig gequetscht, als wäre ein Auto hineingefahren, und das »e« kippt gleich nach rechts in den Zeilenuntergrund, als wäre es kurz davor, vom Verfassungsschutz angeworben zu werden. Das arme, kleine Wort steht unsicher, und dabei ist es besonders wichtig. Schließlich könnte die Kinderbuchausgabe eines Tages Frau Ohnewelt heißen, frei nach König Johann Ohneland … Die obere Schleife des »h« soll allerdings auch künftig den Wortzwischenraum des zentrierten Untertitels füllen, ohne einen anderen Buchstaben bis zur Unlesbarkeit zu verdecken. Ortmann berichtete von einer Schwierigkeit beim Schreiben des Wortes »ohne«, die ihm vermutlich das Ansetzen mit dem kleinen Anfangsbuchstaben »o« bereite, woraufhin ich vorschlug, beim Schreiben mit einem Großbuchstaben zu beginnen, der hinterher wieder entfällt, also zum Beispiel das Wort »Bohne« zu schreiben, um ein neues »ohne« mit dem angestrebten Schwung zu gewinnen. Diesen Trick will er nun ausprobieren. Frau. Bohne. Welt.

Was gibt es noch zu sagen? Die Grotesk-Schrift der Untertitel gefällt mir im Unterschied zu anderen Groteskschriften ausnehmend gut (der Name der Schrift wird nachgeliefert). Allein mit der etwas unruhigen Schrägstellung hatte ich zunächst meine Schwierigkeiten, bis Ortmann ganz entschieden eben darauf beharrte und mir erklärte, dass es sich um eine Kursivschrift handele, die er entlang ihrer Vertikalen senkrecht ausgerichtet habe. Dieses Ordnungsprinzip in einer auf den ersten Blick ungewohnten Gestaltung überzeugte mich. Die Ausrichtung von links unten nach rechts oben ist ohnedies die einzig mögliche, wenn man die Statik der Horizontalen meiden will: »Alle Lebenstatsachen haben eine Richtung« (Robert Spaemann), und wer für das Leben ist, sollte möglichst viel nach vorne und nach oben schauen. Ansonsten verwies Ortmann noch auf ein berühmtes Plattencover, das ebenfalls auf den ersten Blick improvisierter wirke, als es ist. Es handelt sich um Never Mind The Bollocks von den Sex Pistols aus dem Jahre 1977, das später von den Toten Hosen parodiert wurde. In Wahrheit, so Ortmann, sei dieses Cover mit größter Sorgfalt gearbeitet. Dort weist übrigens die Namenszeile der Band auch von links unten nach rechts oben. Die CD-Version hat leider einen vollkommen überflüssigen und den Gesamteindruck empfindlich störenden grünen Rand bekommen. So etwas werden wir hier natürlich nicht machen … Fortsetzung folgt.

FRAU OHNE WELT
Trilogie zur Rettung der Liebe von Bernhard Lassahn
Band 1: Der Krieg gegen den Mann
Klappenbroschur, 176 Seiten, 14,90/9,99 Euro.
ISBN 978-3-937801-80-3 (print)
ISBN 978-3-937801-81-0 (eBook)
Band 1 erscheint Anfang April, Band 2 voraussichtlich im Juni, Band 3 im September 2013.

Armes Deutschland, armer Kühlschrank

Als Joachim Gauck 2010 seinen ersten präsidialen Anlauf nahm, tat er etwas, was sich nicht einmal Christian Wulff erlaubt hat. Er begrüßte die Gäste einer SPD-Unterstützungsfeier mit »Hallo Menschen!«. Christian Wulff sprach statt von »Deutschen« notorisch von »Menschen in Deutschland«. Die Worte »Ostdeutsche« und »Westdeutsche« markierten schon sein Maximum an nationaler Solidarität. An Deutlichkeit hat er es jedenfalls nicht fehlen lassen: »Menschen in Deutschland« können die Mauer zwischen sich haben. Sie können Tagestouristen sein und im Ernstfall sogar feindliche Truppen – ein guter Grund, solche Worte besonders ernst zu nehmen. Christian Wulff ist aber nicht darüber gestürzt, dass sein Deutschland immer noch geteilt oder schon wieder besetzt war. Wie übrigens auch Ulla Schmidt nicht über ihre Definition von Familie: »Familie ist, wenn alle aus demselben Kühlschrank essen.« Wo sie doch mit diesem sprichwörtlich unterkühlten Bild den heimlichen Liebhaber und den noch heimlicheren Einbrecher zu Familienmitgliedern erhoben hat. Auch hier spricht die Tatsache, dass diese Worte ohne Konsequenzen blieben, dafür, sie besonders ernst zu nehmen … Als Fortsetzung empfehlen wir den gestrigen Eintrag »Über die Verwechslung von Fremdem und Eigenem«, denn da geht es noch etwas turbulenter zu.

Über die Verwechslung von Innen und Außen

Ein beliebtes Klischee, das über die Emanzipation von Homosexuellen in Umlauf ist, lautet, sie habe die Erpressbarkeit abgeschafft. Welch ein Irrtum! Nichts ist wirklich neu, und nichts ist wirklich verschwunden. Die Dinge wechseln nur ihren Platz. Fast jeder ist entweder verwundbar oder erpressbar. Je höher die soziale Stellung, desto geringer die Verwundbarkeit. Aber desto höher die Erpressbarkeit. Erpressbar war früher, wer anders lebte, als er sprach. Erpressbar ist heute, wer anders spricht, als er lebt. Homosexualität ist keine private Neigung mehr. Sie konstituiere, so heißt es, nichts weniger als die »Identität« einer Person. Gemeint ist offenbar eine Identität von Innen und Außen. Früher war erpressbar, wer sein homosexuelles Privatleben hinter einer bürgerlichen »Fassade« verbarg. Wer heute dasselbe tut, riskiert immer noch viel. Der soziale Druck ist nicht verschwunden, er ist nur ein anderer geworden. Er zwingt dazu, die äußere Lebensführung bis hin zu Meinungen, Ansichten und Überzeugungen etwa vorhandenen homosexuellen Neigungen anzupassen.

Der Satz, »das Private ist politisch«, bedeutet zuallererst, dass das Private nicht mehr privat sein darf. Dass es keinen Grund mehr geben soll, öffentliche Rolle und private Neigungen voneinander zu trennen, oder aus Interesse am Gemeinwohl von der privaten Befindlichkeit abzusehen, oder die traditionelle Familie für unübertrefflich wertvoll zu erklären, während sie einem persönlich verschlossen bleibt. Wenn einer das tut, kann seine Neigung ihn immer noch zu Fall bringen. Eine um Jahrzehnte zurückliegende falsche Geste genügt. Würde er dagegen schweigen, ließe man ihn in Ruhe. Aber er spricht. Das ist die Stunde seiner Erpresser. Sie denunzieren sein Votum, etwa für die Weitergabe des Lebens, als Verrat an den Homosexuellen und vor allem natürlich als Verrat an seiner eigenen Homosexualität. Als ob sie allen gehören würde. Und als ob ein allgemeines Votum für die Weitergabe des Lebens nicht viel wichtiger wäre als die private Neigung.

Betrachten wir die Sache formal: Wer sich identitätspolitisch nicht in die Zange nehmen lässt, wer sich nicht zwingen lässt, mit sich identisch zu sein, wer innen und außen lebt oder oben und unten, wer die Spannung hält, der ist genauso gefährdet wie früher. Ganz gleich, wie die Homosexualität öffentlich bewertet wird – die Erpresser haben immer noch zu tun. Jedenfalls dann, wenn die Pflicht zur Ehrlichkeit (»outing«) höher bewertet wird als die Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Im Rahmen der Wahrhaftigkeit wäre die Person mehr als ihre sexuelle Neigung. Sie dürfte den höheren Wert der allgemeinen Ordnung des Lebens auch dann anerkennen, wenn die Verfasstheit ihres eigenen Lebens dieser Ordnung nicht entsprechend würde. Anders gesagt: Eine Frau, die abgetrieben hat, müsste noch lange nicht für ein generelles Abtreibungsrecht sein. Genau das wird aber von ihr verlangt. Mehr noch, es wird als selbstverständlich auch um den Preis vorausgesetzt, dass sie sich und anderen Frauen den Schmerz ausredet.

Für die Ordnung des Lebens kann nur derjenige eintreten, der mit bestimmten eigenen Abweichungen diskret umgeht. Wenn das Heuchelei ist, dann brauchen wir eben manchmal die Heuchelei, um die Kluft zwischen individueller Lebensführung und (vernünftiger) sozialer Anforderung zu überbrücken. Wo die soziale Anforderung, Homosexualität wenigstens zu verbergen, wichtiger ist, kann die Heuchelei ein notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung der Hierarchie des Lebens sein. Das Halten der Spannung zwischen Innen und Außen muss dann stillschweigend toleriert werden wie das Schließen der Tür und das Zuziehen der Gardine. Heimlichkeit kann man schlecht öffentlich rechtfertigen. Der letzte Grund für die sinnvolle Spannung zwischen Innen und Außen liegt aber darin, dass – im Falle von Homosexualität – die manifeste Andersartigkeit auch durch noch so wohlwollende Bewertungen und noch so weitgehende Gleichstellungsmaßnahmen nicht aus der Welt geschafft werden kann.

Über die Verwechslung von Fremdem und Eigenem

130302 shutterstock_129669434 kleinEin Adoptionsrecht »für« gleichgeschlechtliche Paare verspricht, ein scheinbar unvermeidliches Defizit ausgleichen zu können. Aber woher kommt der Ausgleich? Von verschiedengeschlechtlichen Eltern, die selbstgezeugte Kinder haben und sie zur Adoption freigeben. 2011 wurden in Deutschland nur 4.060 Adoptivkinder vermittelt. Auf ein Adoptivkind kommen zehn Bewerber. Wir haben keinen Mangel an »Eltern«, sondern an Kindern. Eine Homosexuellenquote im Adoptionsrecht (darum geht es doch wohl – um Zuteilung unabhängig von Eignung) würde pro Jahr schätzungsweise 200 gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern versorgen. Tendenz fallend, weil die Zahl der Adoptionen seit 20 Jahren fällt. Und dafür der ganze Aufwand?

Schauen wir nach Wien. Dort kümmert sich die Grundrechteagentur der EU nicht nur um Homosexuellen-, sondern auch um Kinderrechte. Je mehr Schutz von Kinderrechten, desto mehr Kindesentzug im Falle »ungeeigneter« Eltern. So könnte die Adoptionsrate steigen, während die Geburtenrate weiter fällt. Der Staat verspricht alles Mögliche, was ihm nicht gehört, warum nicht auch Kinder? Die Umverteilung zu Lasten Dritter funktioniert im Namen der Gerechtigkeit wie ein Naturgesetz. Neu wäre nur seine Anwendung auf knappes Humankapital. Jeglicher Widerstand kann als »Homophobie« kampflos besiegt werden.

Wovon sprach die CSU dieser Tage, als sie von der Weitergabe des Lebens hätte sprechen müssen? Vom »Leben mit Kindern«. Da haben wir ihn, wo wir ihn am wenigsten vermuteten, den vorauseilenden Abschied vom genealogischen Prinzip.

Hybridgattung. Nachtrag zur Sterbehilfe Nr. 7

I.

Im ersten Nachtrag zur Sterbehilfe vom 9. Januar habe ich geschrieben, dass sie für Arm und Reich attraktiv sei. Das ist in der Tat ein wichtiges Merkmal, denn es macht die Sterbehilfe zugleich attraktiv für die Gerechten unserer Tage. Auch die Homosexualität scheint in weiten Kreisen unter anderem deshalb so beliebt zu sein, weil sie gegen alle Hierarchien und sonstigen Unterschiede indifferent ist. Mindestens schützt sie weitgehend vor dem Vergewaltigungsvorwurf und – so paradox das klingt – sogar vor Abtreibung, insofern es gar nicht erst zur Zeugung kommt. »Beliebt« heißt in diesem Fall, dass die Befürworter der Homosexualität nicht homosexuell sein müssen. Vielleicht sind es Feministen, die da finden, dass die Männer ihre Sexualität unter sich ausmachen sollten (»Boygroup« heißt die enstprechende Kondomwerbung). Vielleicht sind es Männer, denen die Homosexualität der anderen die Konkurrenz um die Frauen erleichtert … Aber wir kommen vom Thema ab.

Zu den sinnfälligsten Kennzeichen der Massendemokratie gehören offenbar Phänomene, die von öffentlich propagierten und geförderten Impulshandlungen leben: Vögeln und Sterben, jetzt und sofort. Selbsteinschläferung und Homosexualität scheinen eine gleichheitssüchtige Gesellschaft der Verwirklichung ihrer Zeile ein wenig näher zu bringen. Im freiwilligen Suizid scheinen Herr und Knecht wirklich versöhnt zu werden. Das ist die gnostische Dimension der Sterbehilfe, mit der der neue, freilich tote Mensch die Ungleichheit an sich selbst und in sich selbst zum Ausgleich bringt. Er gibt den anderen ein Beispiel, dass ihm und ihnen die anstrengende fürsorgliche Pflege (Ungleichheit!) erspart. Sterbehilfe macht als radikal verwirklichte Gleichheit Konjunktur. Das Wasser muss auch bergauf fließen können (Kenneth Minogue).

II.

Die Sterbehilfe versöhnt den Hedonismus mit dem disziplinären Konformismus, was schon für Tocqueville die Pole der demokratischen Grundspannung waren (bei ihm hieß sie »Gleichheit und Despotismus«. Manche glauben doch tatsächlich, dieses Problem gäbe es heute nur in China.) »Hedonismus« bedeutet Reduktion auf niedrigste Triebe und Impulse. »Disziplinärer Konformismus« bedeutet Herrschaft der global ausufernden Hypermoral (Politische Korrektheit). Der Hedonismus unterfordert uns, der Konformismus überfordert uns. Zwischen beiden Kräften entsteht ein Vakuum, das nur durch ständiges Pendeln zwischen der einen und der anderen Daseinsform als unbeträchtlich erlebt werden kann. Beide Daseinsformen münden oft in dieselbe Suchtstruktur, weil die wirkliche Erfüllung ausbleibt. Die Übermutter Wohlfahrtsstaat produziert Sklaven in Form von Süchtigen, die als Eiferer auftreten und die Welt retten wollen, Pendler zwischen Anspruch und Abhängigkeit, zwischen NGO und Swingerclub.

Gehlens Hypermoral finden wir weiterentwickelt zur Hysterisierungsmoral: »Suchtmensch und Spätkultur«. Jetzt darf jeder sich einbilden (ganz gleich, ob Wähler oder Politiker), über sich selbst zu herrschen. Noch einmal Kenneth Minogue: »Jeder Mensch [wird] so sein eigener Phantasie-Despot, der über andere und deren Ressourcen nach Gutdünken verfügt.« (Die demokratische Sklavenmentalität, S. 286) Alle Außenhalte werden abgeräumt, weil sie einerseits zuviel Autorität und Hierarchie beanspruchen und andererseits zuviel Disziplin, Geduld und Gehorsam erfordern. Auch die Hilfsbereitschaft wird fragwürdig. Schenken ist ungerecht! Man wird kalt, darf sich aber als das Exemplar einer neuen Hybridgattung aus Sklave und Übermensch fühlen. »Regulierte Selbstregulierung« heißt das in der Verwaltungssprache. Der Preis: Die früher äußerlichen Unterschiede werden als innere Spannungen wahrhaft unerträglich. Das vermeintlich rettende Angebot gibt es natürlich auch schon. Es heißt Sterbehilfe.

Von Kügelchen lernen

Was ist das Eigene? Das Eigene ist das Wahre, Schöne und Gute. Ich wiederhole das, weil man es so leicht vergisst. Vermutlich eines der wahrsten, schönsten und besten Bücher überhaupt sind Wilhelm von Kügelgens Jugenderinnerungen eines Alten Mannes über seine Kindheit im frühen 19. Jahrhundert. Es wurde wirklich gelesen, und zwar massenhaft. Weil es so schön ist. Der »Kügelchen« ist Homöopathie für die Seele. Im Kügelchen finden wir alles, was uns heute fehlt. Am Vorabend der Industrialisierung haben alle Dinge, Landschaften und Menschen besonders kräftig geleuchtet. Kügelgens Kindheit war noch wahrhaftig, beseelt, liebevoll, abenteuerlich, gefährlich, traurig und schön. Die Welt war noch groß und weit, und die Tage waren noch lang. Das Leben war unendlich viel mühsamer und gefährlicher war als heute. Deshalb war es auch viel schöner.

Spielzeug wurde ausgedacht, erfunden und vor allem selbstgemacht. In einem fort wurde gemalt, geschnitzt, gegossen, gedrechselt und geschraubt. Ebenso intensiv wurde gewandert, gearbeitet, gelesen, gesungen, musiziert, gelitten, gelernt, gehofft, gelacht und geweint, erzählt und zugehört, geachtet und geholfen. Alles war mit allem verbunden. Es gab noch »ächte« Originale mit ureigenen Angewohnheiten und Prinzipien. In der wackelnden Postkutsche fanden sich die Leute ebenso aufeinandergeworfen wie im Gasthaus. Es sei denn, sie spazierten wie Seume zu Fuß und »schneller als die Post« von Leipzig nach Dresden. Dann freilich gab es die Gefahr, unterwegs ausgeraubt und erschlagen zu werden, wie es auf herzzerreißende Weise dem Vater des Autors am Schluss dieses schönen Buches geschieht.

Auch der Tod war gegenwärtiger als heute, und mit ihm das Leben. Auch die Trauer war gegenwärtiger war als heute, und mit ihr die Freude. Wir wissen, wie wir glücklich sein könnten. Und wenn wir es nicht wissen, weiß es Kügelchen. Aber was machen wir? Wir verlangen nach einem demütigenden Abstraktum wie »kultureller Teilhabe«, natürlich für die anderen, für die Armen. Als ob die nicht mehr lesen könnten. Wir verlangen so unverschämt viel vom Leben, von den anderen, von der Zukunft, von den Medien, von der Technik, von der Forschung, von der Politik oder vom »Service«, dass alles schal wird, was wir sonst noch haben und können. Wir verlangen so viel mehr als das, was wir haben und können, dass uns allein der Abstand unserer Ansprüche von dem, was wir haben und können, depressiv und todessüchtig macht. Wir gieren nach dem Leben, als wären wir tot. Manchmal könnte man meinen, wir wären irgendwann in den zurückliegenden zweihundert Jahren unbemerkt von uns selbst verstorben. Und nun täten wir alles, um nicht wieder aufzuwachen.

Das FKK-Paradox

Was ist los, wenn bereits »ein unauffälliger Blick ins Dekolleté« als sexistisch gilt? (Um allen Angriffen vorzubeugen: Von diesem und nur von diesem Vorwurf handelt dieser Beitrag.) Also, was ist los, wenn bereits »ein unauffälliger Blick ins Dekolleté« als sexistisch gilt? Antwort: Dann geht es  nicht mehr um Zudringlichkeit, sondern bereits um bloßes Begehren. In demselben Maße, in dem der öffentliche Raum mit Bildern von nackter Haut und aufreizenden Zeugnissen sexueller Perversionen nur so zugekleistert wird, soll der Mann prüde werden. Wie schrieb Lena Bopp in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von gestern? Diese Selbstdisziplinierung sei »eine Aufgabe, die sich jedem jeden Tag stellt«.

Die befreite Frau erregt den Mann und verbietet ihm zugleich die Erregung. Der FKK-Strand ist jetzt überall. Nicht der öffentliche Reiz gilt als pervers, sondern die Reizbarkeit. Der Mann soll die Hemmungen übernehmen, die die lustbetonte Frau fallengelassen hat. Er soll sich jene Schamhaftigkeit zulegen, welche die Frau auf dem Weg ihrer Emanzipation nur behindern würde. Ein klarer Deal, aber ein schlechtes Geschäft. Auch Frau Himmelreich hat FKK gespielt, denn sie hat zu später Stunde den fast vierzig Jahre älteren Herrn Brüderle mit der Frage beleidigt, wie er es finde, in fortgeschrittenem Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen. Und dann hat sie sich darüber empört, dass er ihr seine Jugendlichkeit beweisen wollte. Aber es wird noch verrückter.

Wäre Herr Brüderle schwul und hätte er auf wer weiß wie komplizierten Wegen oder gar durch künstliche Befruchtung ein Kind gezeugt, stünde er nicht als Frauenverächter da. Es ist lange nicht mehr vorgekommen, dass der Abscheu vor dem weiblichen Körper als frauenfeindlich gebrandmarkt worden wäre. Ein solcher Ekel ist für den Mann von heute weniger gefährlich als – eine Frau zu begehren. Der Ekel darf sich austoben, das Begehren aber soll ein Ende haben. Der Ekel wird gefördert, das Begehren aber wird bestraft. Wem das nützt? Der Reproduktionsmedizin. Anders gesagt: der Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, der Gattungsreproduktion ohne die Fallstricke der Liebe. Die Bestrafung des Begehrens ist vielleicht nur der Anfang einer Eiszeit.