Es scheint, die Deutschen klagen sich immer noch nicht genug an. Denn Götz Aly will jetzt mit seinem neuen Buch über die Euthanasie im Dritten Reich den Kollektivschuldvorwurf auf das vielleicht letzte Gebiet ausdehnen, das noch davor geschützt war. Aufgrund des massiven kirchlichen Widerstands u.a. von Bischof Graf von Galen wurden die Tötungsaktionen ab 1941 nur noch im Geheimen fortgesetzt. Trotzdem sagte Götz Aly gestern Abend in der Radiosendung »Andruck« (Deutschlandfunk):
»Jedenfalls war das die Erfahrung, die die NS-Führung mit den Deutschen gemacht hat in den ersten anderthalb Jahren des Krieges, dass es möglich war, mitten in Deutschland in sechs Gaskammern, die alle in Sichtweite von Städten, von Kleinstädten, von Wohngegenden standen, wo es roch nach Fleisch, nach verbranntem, dass die das hinnehmen.«
Die Redaktion des Deutschlandfunk stieß in dasselbe Horn: »Die›Aktion T 4‹ war das erste Kapitel des nationalsozialistischen Völkermords, aus dem – so Götz Aly – die NS-Führung die Lehre zog, dass sie ohne größere Probleme Großverbrechen planen und durchführen könne.«
In Wahrheit war das die Lehre, die die NS-Führung gerade nicht zog. Warum wird nun trotzdem das Gegenteil behauptet? Warum wird jetzt verschwiegen, dass die Vernichtungslager nach den »schlechten« Erfahrungen der NS-Führung mit der Euthanasie aus Gründen der Geheimhaltung möglichst abgelegen im Osten des Reiches errichtet wurden?
Die Methode ist allmählich sattsam bekannt: Das Böse der NS-Zeit ist uns einfach nicht genug. Es muss zum absolut Bösen gesteigert werden. Als wäre ein nicht bis zum Absoluten gesteigertes Böses noch nicht böse genug. Nur ein absolut Böses ist uns etwas wert (wer verharmlost hier eigentlich was?). Nun mit einem absolut Bösen kann man das tun, was Hannah Arendt noch für unmöglich hielt, nämlich politisch etwas mit einer Schuld anfangen, die »jenseits aller Schuld« liegt (Arendt). Aus einem grenzenlos gesteigerten Abstraktum lässt sich bei uns politisches Kapital schlagen. Aber wozu?
Während Alys Buch herumgereicht wird, richtet sich der Kollektivschuldvorwurf turnusmäßig auch gegen Adenauer. Seine Widergutmachungspolitk wird plötzlich als amerikahörig diffamiert. Wer hat je geglaubt, dass die USA an der großen Israel-Hilfe unbeteiligt gewesen wären? Da habe Adenauer der eigene Antrieb gefehlt, lautet jetzt die Unterstellung. Der sich selbst beweisende Antisemitismus-Verdacht aus den Gruppenexperimenten der Frankfurter Schule lässt grüßen. Was stellen sich unsere Medienleute eigentlich unter Politik vor? Nichts als reine, unverfälschte Impulsumsetzung, Politik »ohne Welt«? Noch einmal: Worum geht es bei diesem seit Jahrzehnten immergleichen Reflex? Konzentrieren wir uns auf Adenauer.
Der trotz seiner schlechten Erfahrungen deutschfreundlich gebliebene Nahum Goldmann, der als amtierender Präsident des Jüdischen Weltkongresses 1951 mit dem Bundeskanzler in die Wiedergutmachungsverhandlungen eintrat, bezeichnete die vor ihm liegende Aufgabe noch als eine »absolut revolutionäre Idee«. Die damaligen Warnungen einiger SPD-Politiker, darunter Kurt Schumachers, Adenauer werde alles versprechen, aber nichts halten, schlug Goldmann in den Wind.
Später konnte Goldmann schreiben: »Sie hatten unrecht: er hielt zehnmal mehr, als er versprochen hatte; hauptsächlich deshalb, weil er sich dem jüdischen Volk und Israel moralisch verpflichtet fühlte.« Vereinbart wurden sechs Milliarden Mark – in einer Zeit, als auch die Forderungen der Alliierten bedient werden mussten (die Summe der deutschen Entschädigungszahlungen für NS-Unrecht beläuft sich inzwischen auf rund 70 Milliarden Euro). Auch die juristische und wissenschaftliche Aufarbeitung hält an.
Die deutsche Öffentlichkeit hat es sich aber längst angewöhnt, alle deutschen Leistungen an den Forderungen einer weltfremden Gerechtigkeit zu messen und die spezifischen Leistungen dessen, was im Rahmen jeglicher Aufarbeitung überhaupt möglich ist, als ewig unzureichend zu missachten und zu diskreditieren. Wir tun etwas, wofür wir uns nicht gerade auf die Schulter klopfen sollten. Wir tun es aber so, als würden wir es überhaupt nicht tun. Aus diesem immerwährenden Nicht-Genug und aus diesem immergleichen Hervorholen »neuer« Vorwürfe, aus diesem ständigen Ganz-von-vorne-Anfangen spricht eine revolutionär gestimmte Missachtung jeglicher Aufarbeitungspraxis, ein gnostischer Rechts- und Entschädigungsnihilismus, eine einzige Zivilisationsmüdigkeit.
Wenn die These unbedingt lauten muss, dass die Ungeheuerlichkeit von Auschwitz alle regulierenden Prinzipien menschlichen Miteinanders »entwertet« habe; wenn sie lauten muss, dass, weil nichts dieses Unrecht jemals wiedergutmachen könne, alle Wiedergutmachung auf immer unzureichend und zu wenig sein werde, dann freilich kann man die Funktion der Einzigartigkeit des Holocaust besser verstehen. Dann geht es darum, dem »Volk der Täter« einen auf ewig defizienten Status zuzuschreiben und es nicht mehr als Teil der zivilisierten Menschheit ansehen zu müssen. Vielleicht überhaupt nicht mehr als Teil der Menschheit.
Jedenfalls wird es immer schwieriger, das noch zu tun. In der Rede von dem »Versagen« aller Kultur im Angesicht von Auschwitz (weil diese Kultur Auschwitz nicht verhindert habe) steckt aber eine hohe Anmaßung, weil alles, was dem Befund widerspricht, vom geringsten Widerstand bis zur größten Heldentat, automatisch entwertet wird. Wenn a priori die Kollektivschuldthese gelten soll, läuft jeder Hinweis auf eine Ausnahme von der Kollektivschuld auf unzulässige »Relativierung« hinaus.
Es geht offenbar um eine Idee von Gerechtigkeit, die überfordert wird und realisiert werden soll, um eine Gerechtigkeit, die prinzipiell ohne höhere Barmherzigkeit und Vergebung gedacht wird und natürlich auch ohne menschliche. Eine solche Gerechtigkeit mündet automatisch in eine Philosophie der Rache. Die schärfste Verurteilung der Deutschen im Nationalsozialismus leisten sich aber – Deutsche. Das Misstrauen und das Unverständnis des Auslands weckt diese merkwürdige Tatsache schon seit langem.
Wie hieß es auf einer Briefmarke aus der NS-Zeit? »Ein Volk hilft sich selbst.« »Helfen« lassen wir uns auch heute nicht. Jeden Dialog, der unsere Schuld mäßigen könnte, verweigern wir. Wem auch immer. »Jude ist«, wer an der Einzigartigkeit des Holocaust festhält (die orthodoxen Juden, die bei uns neuerdings als »ultraorthodox« verschrien werden, lehnen sie ab). »Wer Jude ist«, bestimmen immer noch wir. Niemals würden wir uns bei einer Beerdigung Hitlers helfen lassen. Den darf uns keiner mehr nehmen, denn was wir sind, sind wir durch ihn und nach ihm.
Wer sich als Deutscher unter die Ankläger reiht und sich gegen das »Tätervolk« stellt, wer als Deutscher die Deutschen anklagt, der mag die Hoffnung hegen, auf diese Weise auf die sichere Seite zu wechseln. Aber warum sollten deutsche Ankläger in geringerem Maße dem »Tätervolk« angehören dürfen als alle anderen? Kann man mit besonders überzogenen Verleumdungen, mit einer Philosophie der Rache, irgendwo Sternchen sammeln wie früher in der Schule?