Seltsam, dass es so viele Vatikangegner gibt, die die Sedisvakanz derart in Unruhe versetzt, dass sie tagelang nur über dass Konklave reden können. Um es auch nicht einen einzigen Tag ohne Papst aushalten zu müssen, werden unentwegt Anforderungsprofile aufgestellt und wieder verworfen. Sagenhaft! Wir aber wollen uns hier nicht mit der Papstwahl beschäftigen, sondern mit der Sedisvakanz. Warum mit aller Kraft darüber hinwegreden, dass wir dieser Tage keinen Papst haben? Warum sich nicht auf das konzentrieren, was der Fall ist? Der nächste Papst wird sich schon zu erkennen geben, wenn es soweit ist. – Heute antworte ich auf den Kommentar eines Freundes zu den gestrigen Abdankungs- und Rücktrittsbetrachtungen in »Tage ohne Papst I«.
Kommentar:
Ich habe den Eindruck, dass es sich um wachsende Formlosigkeit handelt – oder besser gesagt, um wachsendes ›Formunvermögen‹. Sind wir inzwischen so kleine »letzte« und auf unser Ich zurückgeworfene Menschen, dass uns alle überpersonellen repräsentativen Formen hoffnungslos zu groß werden?
Meine Antwort:
Ja, ich fürchte, so ist es. Schlimmer noch: Das Leben selbst wird uns »zu groß«. Aber vielleicht sind nicht nur wir das Problem. Vielleicht ist es auch »die Welt«. Anders gesagt, »zu groß« wird die Differenz zwischen Amt und Person, zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Zu groß wird die Differenz zwischen der wirklichen und der utopischen Welt, seit alle Verheißungen des Jenseits hier und jetzt im Diesseits realisiert werden müssen. Sogar der Vatikan scheint an weltfremden Reinheits- und Unschuldsforderungen nicht mehr vorbeizukommen, wenn eine über dreißig Jahre alte Unbeherrschtheit genügt, um aus dem Amt gefegt zu werden.
Jene Differenz hat es natürlich immer gegeben, aber früher, zu Zeiten eines hierarchischen Weltbildes, war sie selbstverständlich. Die Entfremdung war selbstverständlich. Da durfte es in der Welt und auch im Einzelnen ein »Oben und Unten« geben, ein »Außen und Innen«. Heute sollen jegliche Unterschiede und Grenzen verschwinden. Auf diesem Weg lassen die Spannungen im Individuum aber keineswegs nach. Im Gegenteil, sie steigen sogar an. Jeder soll in sich selbst diese ansteigenden Spannungen auch noch zum Ausgleich bringen können. Wer das nicht schafft, wirkt rückwärtsgewandt oder altmodisch, denn am Kreuzungspunkt von Emanzipationsversprechen und Transparenzforderung gibt es das Problem ja eigentlich gar nicht. Der neue Wunderglaube sagt: »Wer ehrlich mit sich und den anderen wäre, der würde zur Klage keinen Grund haben.« So funktioniert der Mensch aber nicht. Da ist eine neue Grausamkeit am Werke, die dem Einzelnen keinen Rückzugsraum lässt, nirgends.
Früher gab es viel mehr Mittel und Wege, Differenzen zu verbergen, zu überspielen, ihnen auszuweichen, sie zu überformen oder zu unterlaufen. Wenn Kaiser Wilhelm II. auf Nordlandfahrt ging, war er vier Wochen lang sehr weit weg und nur per Postboot oder Telegrafie erreichbar. Für heutige Begriffe war er gar nicht erreichbar. Ein Papst konnte im 19. Jahrhundert noch beinahe wie ein Privatmann durch Rom spazieren. Heute, wo ihn die ganze Welt kennt, lastet auch ihr ganzes Gewicht auf ihm. Milliarden von Menschen verfolgen seine Worte und Wege. Dabei hilft ihnen eine abbruchsüchtige Journaille, die obendrein Krokodilstränen weint (»Respekt!«), sobald sie ein weiteres Opfer an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hat. Selbst in den sechziger Jahren konnte ein Kanzler oder Bundespräsident noch sagen: »Um zehn Uhr abends ist Schluss, aus, Feierabend! Da gehe ich ins Bett, Protokoll hin oder her!« So ein Politiker kam natürlich viel besser durchs Leben als jemand, der sich das mörderische Programm einer Angela Merkel aufhalst.
Es gab Mittel und Wege, die nach und nach abgeschafft und verbaut wurden. Heute kann man der Entfremdung im Amt und durch das Amt desto weniger ausweichen, je höher die unerfüllbaren Ansprüche steigen. Je mehr die Kontrollmöglichkeiten, die Rücksichtsforderungen der politischen Korrektheit und die allseitigen materiellen Erwartungen ausgebaut werden. Da darf man sich nicht wundern, dass die Amtsträger anfangen zu implodieren. Wer niemandem weh tun darf, muss wenigstens schweigen. Er muss innerlich verschwinden. Bundespräsident Gauck hat offenbar schon beschlossen, bald gar nichts mehr zu sagen. Die Ferndiagnose lautet »Depression«. Die stählerne Glätte und Makellosigkeit, die man als hoher Repräsentant heute braucht, um notfalls dem geballten Investigationspotential der Weltmedien standzuhalten, diese Perfektion gibt es überhaupt nicht, bei niemandem. Selbst Heilige waren vermutlich nicht rund um die Uhr heilig. Ohne Differenz gibt es keine Repräsentation. Ohne Differenz kann jeder nur sich selber repräsentieren. Und wir wundern uns, dass das Unbehagen wächst und wächst? Dass höchste Würdenträger anfangen zu kapitulieren?