Václav Klaus in Berlin
Nicht alle Tage schlüpft ein Staatsmann in die Rolle des Revolutionärs. Noch weniger ein Staatsmann, der seine Rede damit einleitet, dass er fürchte, der einzige Krawattenträger im Saal zu sein; wozu es in Berlin auch an diesem Abend Grund genug gab. Seine schonungslose Kritik an der Zerstörung der nationalen Souveränität in Europa, an überbordenden Wohlfahrtsstaaten, an der fortschreitenden Entmündigung der Bürger und an einer planwirtschaftlichen Überregulierung des vormals freien Marktes ist spätestens seit seiner Rede vor dem EU-Parlament im Jahre 2009 gewiss nicht unbekannt; damals verließen mehrere Abgeordnete aus Protest den Saal. Es ist aber sehr erfrischend, sie aus seinem eigenen Munde zu hören. Wer immer noch nicht glaubt, dass der Totalitarismus der untergegangenen Sowjetunion in dem der EU seine zwar nicht mörderische, aber ansonsten in vielem vergleichbare Fortsetzung finde, der sollte sich von dem früheren tschechischen Präsident Václav Klaus eines Besseren belehren lassen, der Donnerstagabend auf Einladung der AfD in Berlin sprach und anschließend mit Beatrix von Storch und Alexander Gauland diskutierte.
Den Sieg des »Sozialdemokratismus« durch Import des politischen Systems der EU in sämtliche Mitgliedsländer, die anhaltende Züchtung von »Anspruchsgesellschaften«, die Schwächung, nicht die Stärkung der politischen Zusammenarbeit gleichberechtigter Staaten durch den Lissabon-Vertrag und nicht zuletzt der irrige Glaube an Finanztransfers und »oberflächliche Reformen«, diese insgesamt »passive und unverantwortliche Einstellung«, so Klaus, würden »uns unsere Kinder und Enkelkinder nicht verzeihen«. Bereits Helmut Kohl habe leider kein Ohr für die wirtschaftlichen Probleme gehabt, die mit einer Einheitswährung würden aufkommen müssen. Die postdemokratischen Tendenzen seien, auch wenn die Mehrheit der Bürger dies nicht erkenne, noch gefährlicher als die wirtschaftliche Stagnation. Die Eliminierung jedweder Grenzen sei aber ein tragischer Fehler und die hohe Zuwanderung eine Folge sogenannter sozialstaatlicher Errungenschaften. Schlichtweg jedes Problem werde der Unvollkommenheit des Menschen zugeschrieben; das habe auch Breschnew schon getan. Ein politisches System wie das der EU, das einen solchen Irrglauben pflege, habe keine Zukunft, sei nicht reformierbar und ein Zusammebruch unausweichlich. In der Sackgasse führe der Weg nur zurück, ein Paradigmenwechsel sei daher die einzige Lösung.
»Ich kann nicht sagen, dass ich für Europa bin«, fuhr Klaus dem naiven Gebrauch dieses Begriffs durch den Moderator in die Parade, um immer wieder zwischen Europa und der Europäischen Union zu unterscheiden, »denn ich kann auch nicht für Asien oder Amerika sein. Im Übrigen bin ich Prager, Tscheche und Mitteleuropäer, und von Europa spreche ich höchstens in Australien oder Südafrika, wo man die kleine tschechische Republik nicht kennt«. (Klaus schien jene Werbeplakate vor Augen zu haben, auf denen, wohlgemerkt in Deutschland, Flüge »nach Europa« angeboten werden …) Als die Sprache auf die gemeinsame Geschichte kam, wirkte der mit politischer Großraumromantik nicht zu beeindruckende Verteidiger der Beneš-Dekrete überraschend sympathisch: »Nein, ich habe nicht das Gefühl, dass ich eine gemeinsame Geschichte mit Finnland, Irland oder Portugal habe.« Würde auch nur ein einziger vergleichbar ehrlicher Satz einem deutschen Politiker entschlüpfen – und sei er noch so geschichtsvergessen dahergesagt –, die Lage wäre weniger trostlos.
»Ich muss immer die jungen Leute korrigieren«, klagte Klaus gegenüber Beatrix von Storch, als er noch einmal den irreführenden Gebrauch des Begriffs »Europa« zurückwies. Die Frage laute nicht, wo Europa ende, wenn es um Europapolitik geht (»Wir sind doch keine Geografen!«), sondern, wo die Grenzen der Europäischen Union lägen. Sein Eigensinn ließ Frau von Storch aber keine Ruhe, und sie erinnerte Klaus an die deutsch-tschechische Geschichte, die auch unter Einbezug der Negativa eine gemeinsame bleibe. Alexander Gauland brachte die lange gesamteuropäische Tradition in Gegensatz zum »bürokratischen Zwangseuropa«, einem reinen Elitenprojekt, dem der Rückhalt in der Bevölkerung fehle. Ein gemeinsames öffentlich-europäisches Bewusstsein gebe es nicht; die Bürokratisierung der EU sei ein ahistorischer Vorgang. Klaus beharrte auf seinem entscheidenden Punkt: Integration ja, Unifikation nein. Seit Maastricht sei die EU auf dem Irrweg. Es gebe keinen europäischen demos, kein europäisches Volk. Für Politiker sei das ein Paradies, das ihnen erlaubt, den Willen des Bürgers zu eliminieren und das jeweilige Nationalvolk zu politischer Ohnmacht zu verurteilen. Aktuell seien nur sechs Prozent der Tschechen für eine Einführung des Euro. Mittel- oder langfristig seien auch nur 16 Prozent dafür, und das heiße, dass die Mehrheit dagegen ist. Was die tschechischen Politiker nicht hindert, gegen ihr eigenes Volk zu handeln.
Die gegenwärtige Misere haben natürlich wir Deutsche zu verantworten, wie Klaus nebenbei bemerkte. Das war nicht in böser Absicht gesagt, und seine Ermunterung an die AfD, langfristig 51 Prozent der Wähler zu gewinnen, war jedenfalls frei von Resignation. Aber zu Klaus‘ Kritik an der europapolitischen Rolle Deutschlands passte allzu gut Gaulands Hinweis, dass die Ideologisierung Europas bei uns am weitesten vorangeschritten sei, weil die Deutschen (insbesondere unsere Eliten) seit 1945 mehr oder weniger auf der Flucht vor sich selbst sind. Trotz oder gerade wegen des verzweifelten Willens der Deutschen, als gelehrige Schüler der Geschichte zu agieren, führt das Friedensprojekt »Europäische Einigung« immer öfter zu seltsamen Déjà-vu-Effekten.
Die Einheitswährung, die in den wirtschaftlich schwachen Ländern zu großen Verwerfungen und zu einer unerträglichen Bevormundung u.a. durch Deutschland führt (bekommen Krebspatienten in Griechenland eigentlich nach wie vor keine Medikamente?), wird bei uns, wenn der Zahltag kommt, als das erkannt werden, was sie daneben auch ist, als das ruinöse Ergebnis einer weiteren, diesmal von Deutschland kräftig unterstützen Einkreisungspolitik, die sich etwa in den bekanntlich absurden, den realen Verhältnissen nicht entsprechenden Stimm- und Kräfteverhältnissen der EZB niederschlägt. Sehr viel scheint sich im Laufe der letzten Jahrzehnte nicht geändert zu haben, nur dass es diesmal die Lust am Verschwinden gewesen sein wird, die Deutschland für viele Länder so unerträglich dominant machte – ohne dass das »Herzland« sie mit seinem unbestreitbaren Gewicht wirklich beherrschen konnte. Aber auch das ist schließlich ein alter Hut.