Persönlich frech, aber geistig servil

Wer antisemitisch sein darf. Warum sich die Mehrheit über die Mehrheit täuscht. Warum »Vielfalt« Selbstabschaffung bedeutet. Warum es ohne Transzendenz keine Meinungsfreiheit gibt. Warum mehr Autonomie weniger Moral bedeutet usw. – Fünf Splitter vom verregneten Sonntag

Es gibt Sätze, die so klingen, als hörte man sie zum ersten Mal. Neulich sagte der Redakteur einer großen Hamburger Zeitung zu mir am Telefon: »Wir weißen Männer müssen schauen, das wir keine schlechten Verlierer sind.« Ich fiel fast vom Stuhl: Stell dir vor es war Krieg, und keiner hat es dir gesagt. Zum Mitmachen ist es zu spät, zum Siegen erst recht … Habe ich den Satz mit den weißen Männern hier schon zitiert? Egal. Das Zitat ist es wert, wiederholt zu werden, weil es in einzigartiger Weise die mit dem Modewort »Diversität« einhergehende Lüge aufdeckt. »Diversität« bedeutet nämlich in Wahrheit »Konformismus«. Norbert Bolz hat das gut erklärt: »Wir haben es mit einer schlichten Inversion des Kulturchauvinismus zu tun. Der Westen gilt nichts, Asien und Afrika sind Vorbilder. [Anmerkung des Bloggers: natürlich nicht in realiter, was die Fähigkeit zur Grausamkeit (in Afrika), die Fähigkeit zur Disziplin (in Asien) und die strenge Gültigkeit sittlicher Prinzipien (in Afrika und Asien) betrifft. Die außereuropäischen Vorbilder sind invertierte Vorbilder. Sie haben eine rein negative Funktion.] Diversität heißt also: alle minus eins. Und dieses Eine ist die westliche Kultur der weißen Männer. So wird das Anderssein zur Zwangsjacke.« Zweite Anmerkung des Bloggers: Mangels positiver Bestimmung wird das Anderssein zur Zwangsjacke des Nichtseins. »Anderssein« ist zu übersetzen mit »Am-besten-gar-nicht-mehr-Sein«. Nein, Verschwinden ist auch keine Lösung. Wir weißen Männer müssen nicht schauen, dass wir verschwinden, sondern dass wir bleiben und uns verteidigen. Unser geheuchelter Verzicht (»Wir Deutsche kennen nur noch europäische Interessen«) kommt bei niemandem gut an, nicht einmal bei denen, die davon profitieren und uns für unser absichtliches Verlierertum höchstens verachten. Erkennen wir die Lage! Verzichten wir auf den verlogenen Edelmut der Inversion!

Noch ein Satz, der so klingt, als hörte ich ihn zum ersten Mal. Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertész schrieb am 6. August 2001 in seinem Tagebuch: »Die Offenbarung am Berg Sinai hat mit dem, was in Auschwitz offenbar geworden ist, ihre Geltung verloren.« (Sinn und Form, 3. Heft 2013, S. 302) Der gebürtige Jude betrachtet Auschwitz nicht nur als Gegenoffenbarung, sondern als siegreiche Gegenoffenbarung – und nicht nur er. Schließlich handelt es sich um den ersten Glaubenssatz des säkularen Juden- und Christentums nach 1945. Die jüdische Orthodoxie »glaubt« bis heute nicht an Auschwitz und lehnt die »Einzigartigkeit« des Holocaust ab. Denn die Einzigartigkeitsthese verlangt einen konkurrierenden Offenbarungsglauben, der mit der Messiaserwartung kollidiert. Bemerkenswerterweise wird das orthodoxe Judentum bei uns (zum Beispiel im Deutschlandfunk) seit einiger Zeit regelmäßig als »ultra-orthodox« bezeichnet (wegen seiner israelischen Siedlungspolitik, aber das ist nur ein beliebiger Anlass:) Bei dem Etikett »ultra-orthodox« handelt es sich um eine unfreundliche und ablehnende Steigerung von »orthodox«, die nicht näher erläutert werden muss, die sogar die Gefahr der Verunglimpfung von Juden in Kauf nimmt. Wer »ultra-orthodox« sagt, riskiert eigentlich den Antisemitismusvorwurf. Aber er tut es eben nur uneigentlich. Er lebt sogar in der ruhigen Gewissheit, dass der gefährliche Vorwurf an dieser einen Stelle nicht erhoben wird. Was soll uns das sagen? Ist Antisemitismus erlaubt, sofern er sich gegen die Orthodoxie wendet? Ist er nur verboten, wenn er die tradierte, eine der Widerlegung durch Auschwitz  entzogene Religion (sei es die jüdische oder die christliche) – verteidigt? Nicht nur unter diesen Umständen müsste es zu einem neuen Bündnis kommen und ein christlicher Antisemitismus der Vergangenheit angehören, jedenfalls eine Feindschaft rechtgläubiger Christen gegen rechtgläubige Juden.

In einer sehr dichten phänomenologischen Betrachtung beschreibt der Germanist und Schriftsteller Claudio Magris den Weg »Von der Manie zur Utopie« (ebenfalls in dem bereits zitierten neuen Heft der Zeitschrift Sinn und Form, S. 433–436). Er schreibt unter anderem: »Die Monomanie ist auch mit der Acedia, der Trägheit, verwandt, dem Dämon des Mittags, den Evagrius Ponticus bereits im 4. Jahrhundert als große Gefahr für die Mönche bezeichnete: einem geheimnisvollen Übel, das alle Taten des Christenmenschen aushöhlt und ihres Sinns beraubt. Dieses geheimnisvolle Übel bedroht aber nicht nur Christen, sondern alle Menschen; die Acedia ist eine selbstgefällige und selbstquälerische Melancholie, eine Traurigkeit, die das Leben um jeglichen Sinn und jegliches Begehren bringt, ein Nichtsmachenwollen [Anmerkung des Bloggers: ein Am-besten-gar-nicht-mehr-Sein], das dazu führt, die Zeit mit Unsinn totzuschlagen und sich den Kopf über Nichtigkeiten zu zerbrechen, eine Trägheit, die nicht nur den Glauben der Mönche, sondern das ganze Leben vergiftet und über die Jahrhunderte, mit fortschreitender Säkularisierung und Psychologisierung, zur Langeweile, zum Spleen wird, zum ennui, der Baudelaire zufolge innig mit der modernen Poesie verbunden ist. Es handelt sich um eine dumpfe, schläfrige und – Giorgio Agamben zufolge – erotisch aufgeladene Trägheit, eine blutleere Erotik allerdings; das Ich wohnt genußvoll dem eigenen Untergang bei [dem Am-besten-gar-nicht-mehr-Sein], wie unter dem Einfluß einer Droge oder der schwarzen Galle der Melancholie. Die grundlose Traurigkeit hindert den Betroffenen daran, die Möglichkeiten des Lebens zu ergreifen, ihre Gefährlichkeit rührt von ihrer Verbindung mit morbider Schönheit und ihrer unmittelbaren Nähe zur Verzweiflung her, der resignierten Anerkennung der Tatsache, daß alle Wünsche unerfüllbar und alle Ziele unerreichbar sind.« Von hier aus schreitet Magris zu der Beobachtung fort, dass sich die Monomanie mit der Utopie gern zu einer Obsession, ja zu einem Größenwahn verbinde, und damit sind wir bei dem Thema des britischen Politologen Kenneth Minogue, der in der wachsenden Unfähigkeit zu persönlicher Verantwortung die Kehrseite politisch korrekter Weltrettungsphantasien erkannt hat. Leider ringt sich Magris aber nicht zu dieser Konsequenz durch: »Weitermachen, sich ironisch und selbstironisch und auch mit manischer [!] Besessenheit um die Verbesserung der Welt bemühen: Das wäre tatsächlich eine wunderbare Obssession.« Magris setzt an die Stelle der bekannten katastrophalen Utopieverwirklichungen nur eine geläuterte, privatmoralische Form der Utopiepflege, einen braven, aber keineswegs frommen Glauben. Zwischen Diesseits und Jenseits will Magris nicht trennen. Aber nur diese Trennung hilft uns zu tun, was wir können, und zu lassen, was wir nicht können. Auf den Wert der Transzendenz aber zielt auch der nun folgende, dritte Splitter.

Zum Thema Verantwortung und Politik würde Norbert Bolz würde sagen: »Man muss nicht mehr erwachsen werden, man wird emanzipiert.« Dazu fällt mir meine Taxifahrt ein, vorvorgestern in Frankfurt am Main. Der Taxifahrer war gebürtiger Türke. Ohne dass ich das Thema angeschnitten hätte, wollte er von mir wissen, was ich von der Homo-Ehe halte. Als ich ihm sagte, dass ich sie ablehne, wunderte er sich. Nicht, weil er sie befürwortet hätte, sondern weil seine anderen Fahrgäste sie alle befürworten. Er sagte mehrfach »alle« … In der Homo-Ehe kriegt man die Kinder, also die Familie, vom Staat: Emanzipation anstelle von Erwachsenwerden. Offenbar gefällt das auch immer mehr Leuten, die sich ihre Kinder durchaus selbermachen könnten. Das entsprechende Zitat über die Emanzipation stammt übrigens aus Norbert Bolz’ rasantem Aufsatz »Freimut« (in seinem auch sonst höchst lesenswerten Sammelband Wer hat  Angst vor der Philosophie?). Erwachsenwerden musste das Individuum noch auf eigene Rechnung, Emanzipation dagegen ist eine Leistung der Gesellschaft auf Kosten aller (minus denen, die sich emanzipieren lassen).[1] In »Freimut« geht es um eine von den Forderungen der politischen Korrektheit in Schach gehaltene Medien- und Geisteswelt. Ihr Druck nährt die Angst aller. Der sakramentale Begriff der Wahrheit bleibt auf der Strecke, wenn jeder ernsthafte Widerspruch mit Ausgrenzung, Schauprozessen und sozialem Tod beantwortet wird. Damit sind nicht die Pausenclownerien angeblicher Querdenker gemeint, die die Rolle des Häretikers travestieren, »persönlich frech, aber geistig servil«, und auch nicht  »die Schauspieler des Nonkonformismus auf der Bühne des Konformismus«. In Gefahr bringt sich, wer noch das Offensichtliche benennt. Insbesondere die geisteswissenschaftlichen Fakultäten degenerieren zu »Treibhäusern der Weltfremdheit«. Die Lüge wird zum massenhaft nachgefragten Glaubensartikel, denn die Demütigung der Massen macht erst dort so richtig Spaß, wo jeder die Lüge durchschaut, wo also jeder nicht nur bewusste, sondern auch »gefühlte« Demütigung erfährt: »Je besser die Massenmedien die öffentliche Meinung organisieren, desto wahrscheinlicher wird es, dass sich die meisten Menschen in ihrem Urteil über die Meinung der meisten Menschen irren. (…) Öffentliche Meinung ist also nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen ›was die Leute meinen‹.« Soviel zu meiner Frankfurter Taxifahrt.

Dem Aufsatz von Norbert Bolz verdanke ich auch das Schlusswort zu diesen Splittern: »Der freie Geiste verletzt [mit Charisma und Askese] nicht nur das Tabu der Exzellenz sondern auch das Tabu der Transzendenz. Sein Mut zur Wahrheit sprengt den Funktionalismus, die ausweglose Immanenz der sozialen Systeme. Und wenn man sieht, wie die ›Weltgesellschaft‹ jedes Wort des Widerstands, jede Geste des Protests mühelos ins eigene Funktionieren einbaut, muss man zu dem Schluss kommen: Transzendenz ist heute der einzige subversive Begriff. Die konkrete Utopie jedes Außenseiters ist der systematische Paradigmenwechsel.«


[1] Gerhard Schmidtchen bringt dies auf die Formel: »Ich habe Bedürfnisse, also bin ich«: »Hier haben wir also den Schlüssel, warum wachsende Autonomie mit sinkender Moral einhergeht, warum sich Personen jenseits eines verbindlichen moralischen Konsens vergegenständlichen wollen. Sie rufen nach Moral wie nach einer konsumierbaren Leistung der Institutionen. Es gibt so etwas wie eine lamentöse Moralsehnsucht, aber niemand will eine Einzahlung in diese Kasse machen.« (Gerhard Schmidtchen: »Religiös-emotionale Bewegungen in der Informationsgesellschaft«, in: Glaube und Weltverantwortung, hrsg. von G. Baadte und A. Rauscher, Graz u.a. 1988, S. 135. – Zit. nach Lothar Roos: »Kultur und Krise Europas«, in: Die Neue Ordnung, 67. Jg., Heft 2/2013, S. 98–106.)