Juliette Gréco in Berlin – Neues aus dem Fundbüro Nr. 8

Es schien, als sei es wie immer, als erlebe man eine Wiederholung, und dies im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass die schönsten Dinge gerade davon leben: von der Wiederholung. Alles, was sich verändert, ist darin aufgehoben wie in einer schützenden Hand, es wird, je nachdem, bewundert, beklagt, verziehen, ist aber Teil des einen Lebens: »Es ist gut, dass wir uns geliebt haben«, singt Juliette Gréco, die Grande Dame des französischen Chansons in der bis auf den letzten Platz besetzten Philharmonie.

Selten ist das Publikum so bunt gemischt wie an diesem Abend. Als Zugabe gibt es wieder, wie seit einigen Jahren schon, Jacques Brels verzweifeltes »Ne me quitte pas«, das Gréco gehetzt aus sich herausstößt. Wieder der verhalten begeisterte, ehrfürchtige Applaus und zum Dank die weißen Rosen. Mit immer neuen liebevollen Gesten verabschiedet sich Gréco, die am 7. Februar [2002] 75 Jahre alt wurde, von ihrem Publikum. Alles ist vertraut, das weiße Gesicht, der an einen Pantomimen erinnernde Kontrast zum langen, schwarzen Kleid, die einladenden, dirigierenden, flehenden Hände, die, wie bei Jacques Brels »On n’oublie rien« die Wangen hinauffahren, und die später, ganz plötzlich, nur noch an einem Faden zu hängen scheinen. Und wieder das zaubernde Licht, die zögernden, erst am Ende des Abends sich ins Tänzerische vortastenden Bewegungen ihrer Beine. Der erste Ausfallschritt ist fast ein Ereignis.

Bei Gréco ist die unerhörte Vielfalt ihrer Gesten Teil des Gesangs, ein Instrument, der Stimme enger verwandt als der Flügel, das Akkordeon oder die E-Gitarre, deren Klänge manchmal allzu saftig in den Saal quellen, in einen Raum, dessen feine Akustik für Laute aus dem Verstärker einfach nicht gemacht ist. Gréco singt, um Zwiesprache zu halten, einladend, versunken, aufbrausend, mit härter und rauer werdendem Timbre – das hier und da den Samt der frühen Jahre anklingen lässt, den Verlust in eine wehmütige Erinnerung verwandelt und aus der unausweichlichen Veränderung nicht einmal eine Tugend zu machen braucht, weil Veränderungen wie diese neue Möglichkeiten des Ausdrucks bieten: wie das Sprechen, Rufen, Klagen und Flehen, das sich bei Brels »J’arrive« in Gestik und Mimik zu einer in Mondlicht getauchten Anklage Gottes steigert.

Dies war der mit nicht enden wollendem Applaus bedachte Höhepunkt des Abends. Die Musette-
Melancholie des einst von Serge Gainsbourg für Gréco verfassten »Accordéon« kommt gebrochen zum Vortrag, mit einer mal lang gezogenen, mal abgehackten ersten Silbe. Die stimmliche Vielfalt der oft hart rhythmisierten Worte wohnt nicht in virtuosen Koloraturen, sondern mitten in der Monotonie, besonders in den neueren Chansons, die Grécos Ehemann, Arrangeur und Pianist Gérard Jouannest schrieb. Gréco beschwört die gleichen Erinnerungen wie eh und je, den Sommertag, den Geliebten von einst, die blauen Augen, den Mann, der ins Meer schwamm, das alte Paar, die vertraute Straßenecke, die erotischen Obsessionen – und fragt plötzlich auf Deutsch: Warum gibt es eigentlich keine Ameise mit Hut?

Prägend waren, wie man weiß, Grécos »Erfinder« Jean-Paul Sartre, der Existenzialismus der Nachkriegszeit, das Künstlerviertel St. Germain-des-Près. Aller Schmerz und alle Enttäuschungen eines langen Lebens, wie sie hier besungen werden, sind indes nicht die Kehrseite des Glücks, sondern Teil desselben. Wenn es Camus gelang, Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorzustellen, dann ist Gréco zweifellos der Sisyphos eines halben Jahrhunderts Chansongeschichte. Wie auch das schwarze Kleid für Gréco kein Zeichen der Trauer ist, sondern eine schützende Haut, und das, obwohl sie sich von den meisten ihrer Gefährten und Autoren wie Simone Signoret, Jean Cocteau oder Jacques Prévert längst trennen musste. Gréco, das ist ein Versprechen, das die Zukunft gibt: Wer lebt, der stirbt nicht. Es wird so weitergehen.

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»Wer lebt, der stirbt nicht. Wieder ein Ereignis: Juliette Gréco sang in der Berliner Philharmonie«
von Andreas Krause (d.i. Andreas Lombard). Aus der Berliner Zeitung vom 22. März 2002